Theater und Orchester Heidelberg
Szene bei der Klavierhauptprobe von »Die getreue Alceste«; Foto Susanne Reichardt

»Zeitlose Musik«

Im Zentrum des diesjährigen Barock-Fests steht Georg Caspar Schürmanns »Die getreue Alceste«. Dramaturg Thomas Böckstiegel sprach mit Dirigentin Christina Pluhar und Regisseur Jan Eßinger über das vermeintlich Gute, einen barocken Steinbruch und zeitlose Musik.

In Schürmanns Oper treffen wir auf eine alte Bekannte in unbekanntem Gewand. Neben Gluck, Händel und Euripides fanden viele andere Dichter und Komponisten ihren Gefallen an der Figur der Alceste. Inwieweit sticht Schürmanns Heroine hervor?

Jan Eßinger: Schürmanns Werk bietet nur wenige Berührungspunkte mit dem Drama des Euripides. Der Opfertod steht nicht als einziges großes Thema im Mittelpunkt, diese Oper ist weniger eine griechische Tragödie als ein tief menschliches Gefühlsdrama: Beziehungskonflikte und Streitereien unter Freunden und Bekannten lassen einen Tag, der als Höhepunkt eines großen Hochzeitsfestes geplant war, in eine Horrorerfahrung für alle Beteiligten kippen. Am Ende bleibt – neben vielen offenen Fragen – vor allem die Erleichterung, noch am Leben zu sein. Wie auch immer dieses Leben in Zukunft aussehen kann. Natürlich steht Alceste im Mittelpunkt, sie, die sich ohne große Überlegung, fast intuitiv und aus einem Affekt heraus, für ihren Verlobten opfert. Nicht, weil er der König ist. Nicht, weil sie sich nicht wertgeschätzt fühlt. Und auch nicht aus einer falsch verstandenen Pflicht heraus. Sie tut es aus Liebe, die bedingungslos zu sein scheint und so auch theoretisch zu einem Titel wie »Die liebende Alceste« führen könnte. Wir verfolgen ihren Weg, gehen mit ihr auf die Reise – aber eben auch mit den anderen (menschlichen) Figuren, die wir in unserer fast kammerspielartigen Fassung ohne Chor zu einer Gruppe zusammenziehen, die Freud und Leid miteinander teilen muss. Abseits davon sind nur die Gottheiten, die zunächst eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen. Sie nehmen allerdings an zwei Wendepunkten der Geschichte eine zentrale Funktion ein: Ohne Thetis’ Eingreifen wäre die Entführung der Alceste nicht möglich, ohne Pallas, das Orakel, wäre die Geschichte mit Admetus’ Tod zu Ende. Deshalb haben wir uns auch auf diese Mindestanzahl an Göttern verständigt und außer den Herrschern der Unterwelt alle weiteren Götterfiguren konsequent gestrichen.

Neben der Titelheldin begegnen wir mit Cephise und Hyppolite zwei weiteren Frauenfiguren, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Frauenbild dieser Oper scheint sehr divers.

Jan Eßinger: Eigentlich können wir fast von drei Protagonistinnen sprechen, da das Libretto Cephise und Hyppolite ähnlich wichtig behandelt wie das Schicksal der Alceste.
Christina Pluhar: Cephise lässt sich von der Männerwelt nicht einschüchtern. Sie fühlt sich frei, wechselnde Beziehungen einzugehen und ist überraschend emanzipiert.
Jan Eßinger: Sie genießt es, ungebunden zu sein und auch den ein oder anderen Flirt zwischendurch, was aber nicht heißt, dass sie nicht durch die Extremsituation, in die alle unsere Figuren während des Opernabends hineingeraten, feststellt, was emotionaler Halt und Verlässlichkeit auch auf Beziehungsebene bedeuten kann.
Christina Pluhar: Interessant, dass Schürmann sie hauptsächlich in Rezitativen charakterisiert und ihr wenige Arien zufallen, was für ihre Agilität spricht, da in Rezitativen grundsätzlich mehr Handlung passiert als in den Arien, die eher Affekte und Gefühle verdeutlichen. Hingegen ist Alcestes Musik von überirdischer Schönheit: Sie versinnbildlicht die Gefühlswelt der liebenden Frau, die freiwillig in den Tod geht, damit ihr Geliebter leben kann. Hyppolites Liebe hingegen ist gezeichnet von Verzweiflung, da sie nicht weiß, wie sie ihre Liebe ausleben kann. All dies ist in der Musik widergespiegelt. Ob in der Arie »Sanfte Lüfte«, in der sich ihre heimlichen Sehnsüchte manifestieren, oder mit der Arie im letzten Bild, »Mit dieser Faust will ich mich selbst bestrafen«, in der ein fast pubertärer Selbsthass mit einer Todesverzweiflung zum Tragen kommt.
JE: Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit einer solchen Figur wie Hyppolite umzugehen: Entweder man liest pathologische Züge heraus und zeichnet eine hysterische Frau, die als Stalkerin grundlos Hercules belästigt. Oder man entscheidet sich für eine Lesart, in der Hercules ihr vielleicht früher und auch jetzt immer mal wieder Grund gibt, an der Hoffnung auf eine Beziehung festzuhalten. Ob und wie diese dann am Ende der Oper aussehen kann, das finden wir gerade gemeinsam mit dem Ensemble auf der Probe in einem wirklich spannenden Prozess heraus.

Georg Caspar Schürmanns Musik wirkt im Kontext ihrer Zeit überdurchschnittlich facettenreich und an vielen Momenten fast zeitlos.

Christina Pluhar: Das Schöne an der Musik jener Zeit ist, dass sie auf uns generell zeitlos wirkt, da ihre harmonische und melodische Sprache zutiefst menschlich ist und unsere Seelen berührt. Dies erklärt den großen Erfolg der historischen Aufführungspraxis im 20. und 21. Jahrhundert.
Jan Eßinger: Seine Musik zeichnet viele einzelne Momente der Oper sehr stark und farbenreich und die unterschiedlichen Charaktere vielschichtig. Zudem ist der Komplex rund um Alcestes Selbstmord für mich eines der musikalischen Highlights der damaligen Zeit. Gleichzeitig bleibt natürlich die große Herausforderung mit diesem »barocken Steinbruch« so umzugehen, dass musiktheatrale Situationen entstehen, die spannend sind und uns im Heute bewegen und berühren. So ist für uns der Zugang durch die einzelnen Figuren, deren Gefühle und Konflikte auch heutzutage nachvollziehbar sind, der Schlüssel zum Stück.
Christina Pluhar: Interessant hierzu ist, dass Schürmann eben nicht nur Komponist, sondern auch selber Sänger war. Seine Arien haben eine wunderbare gesangliche Melodik, bei der man klar spürt, dass diese von einem Sänger für Sänger komponiert wurden. Es bleibt überraschend, dass er dem heutigen Opern- und Konzertbesucher noch zu Unrecht unbekannt ist.
Jan Eßinger: Ich empfinde die Melodik, die du beschreibst, als eine Leichtigkeit, die ich oft in Schürmanns Musik wiederfinde. Dieses Gefühl der Leichtigkeit betonen wir bewusst in der Inszenierung, um sie dann in etwas Existenzielles kippen zu lassen. Wie die Musik erreicht auch die Szene dadurch eine Fallhöhe, die das Drama ab dem 2. Akt umso mehr erfahrbar werden lässt. Wir siedeln die Inszenierung in den 1960er-Jahren an und bringen damit ein ganz spezielles Lebensgefühl auf die Bühne: Besonders zu Beginn der Oper sehen wir das Leben der reichen, unbeschwerten High-Society, das in Cannes und Monaco oder eben – so in unserer Inszenierung – in einem Hotel auf einer griechischen Insel spielen kann.

Was sind die musikalischen Herausforderungen, eine 300 Jahre alte Oper in der heutigen Zeit aufzuführen?

Christina Pluhar: Das originale Manuskript gleicht eher einem Pasticcio und zeichnet sich durch eine flexible Handhabung der Form aus. Die eigentliche Handlung ist in deutscher Sprache komponiert und zieht sich wie ein roter Faden hindurch. Dieser Grundstruktur wurden unzählige  italienische Arien hinzugefügt, welche teilweise von anderen Komponisten und aus anderen Opern stammen. Diese italienischen Einschübe sollten den Sängern mehr Bravourarien geben, um stimmlich brillieren zu können, sowie den Geschmack des Opernpublikums der Zeit ansprechen. Das komplette Manuskript mit allen eingefügten Arien aufzuführen, würde eine Aufführungsdauer von fünf bis sechs Stunden ergeben. Um die Oper einem heutigen Publikum nahezubringen, galt es erst mal, das Stück auf eine für das heutige Publikum vertretbare Länge zu reduzieren und die eigentliche Handlung verständlich herauszukristallisieren. Jan Eßinger, Benita Roth und Thomas Böckstiegel haben gemeinsam die Kürzungen und Umstellungen erarbeitet. Das Werk war ursprünglich für einen für die damalige Zeit üblichen tiefen Stimmton komponiert. Für die Aufführung dieses Werkes mit einem modernen Orchester war es nötig, die Tonarten zahlreicher Arien in eine tiefere Stimmlage zu transponieren, denn auf dem modernen Stimmton von 440 Hertz entstünde sonst eine unbequeme Tessitur für Gesangsstimmen, die für die Zuschauer nahezu schrill wirken würde und für Sängerinnen und Sänger extrem unbequem bis unsingbar wäre.

Barockopern haben per se den Ruf, durch ihre Rezitativ-Arien-Struktur formell und hölzern zu wirken.

Christina Pluhar: Dies halt ich für ein Vorurteil unserer modernen Zeit. Die musikalische Erfindung des »recitar cantando« um 1600 war ausschlaggebend für die Entstehung der Oper. Vor 1600 gab es »inszenierte« Musikaufführungen nur in Form einer Aneinanderreihung von Musikstücken, die eine Geschichte erzählen sollten, doch die eigentliche Handlung musste durch gesprochene Sprache erzählt werden. Mit mehrstimmigen Madrigalen und kontrapunktischen Kompositionen war es schwer, eine Handlung zu erzählen, da viele Sänger gleichzeitig einen Text zu singen haben. Erst eine der größten Revolutionen der Musikgeschichte um 1600 mit der Entstehung einstimmiger Komposition, die von einer Theorbe begleitet wurde und die eine Nachahmung der griechischen Tragödie anstreben sollte, ermöglichte das klare Erzählen einer Handlung und war Voraussetzung für die Kreation der ersten Opern um 1600. Rezitative sind somit etwas sehr Spannendes und geben den Sängern die Möglichkeit, den Text quasi wie ein Schauspieler dem Publikum zu erzählen.
Jan Eßinger: Bereits bei der Erstellung unserer Spielfassung war es uns wichtig, frei mit eben dieser Struktur umzugehen und sie im besten Sinne »musikdramatisch« zu nutzen. Wir haben Szenen zusammengezogen, um Figuren zu stärken und Konflikte zu schärfen. Die Arien haben wir formal frei behandelt, um sie nicht nur als Bravourstück im originären Sinne einzusetzen, sondern auch durch sie die Charaktere den Zuschauern näherzubringen. Da kann es schon mal passieren, dass eine Arie auf ihren A-Teil reduziert und auf unkonventionelle Art und Weise unterbrochen bzw. gestoppt wird.

Nach Alcestes Opfertod wird sie durch den Fährmann Charon in die Unterwelt gebracht.

Jan Eßinger: Die Unterwelt theatral zu lösen, war eine der zentralen Herausforderungen des Regiekonzeptes, besonders, da diese Unterwelt musikalisch das Gegenteil von dem ist, wie man sich eine Unterwelt vorstellt: Es beginnt mit einer Buffo-Arie Charons und geht in eine Rezitativ-Chor-Collage über, die nichts vordergründig Beängstigendes hat, sondern mehr mit Ruhe und Frieden spielt, den Alceste nun als Dank für ihr Selbst-Opfer finden soll. Wir haben uns entschieden, diesem trügerisch-schönen Stillstand Sehnsuchtsbilder entgegenzusetzen – also quasi Traumbilder von Situationen, die Alceste nun, da sie sich geopfert hat, nicht mehr erleben kann. Schmerzhafter Höhepunkt ist ein Familienbild, denn Kinder wird sie nun mit Admetus keine mehr bekommen können und – anders als in anderen Alceste-Stücken – hat sie auch noch keine mit ihm. Konfrontiert mit diesen Eindrücken wird Alceste klar, dass sie nicht in der Unterwelt bleiben möchte und empfindet die Befreiung durch Hercules als Erlösung von der Erlösung.